Ursprünglich auf Polyneux gepostet.
Wenn ich damals den in meiner Grundschule angebotenen afrikanischen Trommelkurs nicht nach dem ersten Besuch abgebrochen hätte, könnte ich dann heute Dank meiner Kunstfertigkeit auf diesem Gebiet Regenwolken herbeirufen? Oder würde ich zumindest nicht ganz so blamabel an Rhythmusspielen scheitern? Wer stellt sich solche Fragen nicht manchmal? Was wäre aus mir geworden, wenn ich mehr in diesem Schulfach gelernt oder jenes Hobby ernsthafter verfolgt hätte?
Das vor zwei Monaten bei Steam erschienene Long live the Queen hat das „Was wäre, wenn…“ Prinzip perfektioniert. Zu Beginn merkt man davon wahrscheinlich noch nicht so viel, sondern wird entweder angeekelt oder begeistert von dem zuckersüßen Anime-Stil sein. Hach, ist das Mädel rosa… würg. Man übernimmt die Rolle der 14jährigen Prinzessin Elodie, die gerade ihre Mutter verloren hat und sich auf ihre Krönung zur Königin vorbereiten muss. Präsentiert wird das Ganze als Visual Novel, wobei jede erlebte Woche aus zwei Teilen besteht: Zuerst wählt man aus einer großen Anzahl Fähigkeiten zwei aus, die man trainieren möchte. Wie gut man lernt, hängt von der aktuellen Stimmung ab, auf die man also auf jeden Fall achten sollte. Nachdem der Stundenplan festgelegt wurde, wird dann die Handlung weitergeführt. An den Wochenenden darf man sich außerdem zwischen verschiedenen Freizeitaktivitäten entscheiden, die die Gemütslage beeinflussen, von fröhlich bis traurig und von gehorsam bis eigenwillig.
Man muss zwar in den Dialogen Entscheidungen treffen, aber wie gut man sich schlägt, liegt überwiegend an den Fähigkeiten, die man sich angeeignet hat. Kostüme (aber selbstverständlich kommt so etwas wie Cosplay vor!) können einem zwar in Notfällen einen kleinen Boost für bestimmte Fähigkeiten verpassen, aber man schaltet sie erst frei, wenn man schon ein bisschen was in diesem Gebiet auf dem Kasten hat. Es lohnt sich also, eine gewisse Strategie zu verfolgen und sich zu spezialisieren. Wer zu viel anfängt, aber in nichts wirklich glänzen kann, wird seine eigene Krönung nicht erleben, denn der Alltag einer Prinzessin ist nicht so liebreizend, wie man sich das vielleicht vorstellt. Das hier ist kein Lillifee-Kinderkram, das ist Game of Thrones durch und durch! In Long live the Queen lauern an allen Ecken Gefahren, sei es durch Unfälle oder Attentate. Die adelige Verwandtschaft spinnt Intrigen, fremde Herrscher lauern nur auf ein Zeichen von Schwäche und garstige Monster hausen in den Wäldern. Mit schwarzem Humor legt das Spiel den Fokus auf die unterschiedlichen Todesarten, die sich ergeben können, so dass man schon bald nicht mehr bloß das Ziel hat, zu gewinnen, sondern jedes mögliche Ende gesehen zu haben. Und „Ende“ ist hier tatsächlich sehr endgültig zu verstehen, denn meistens geht die arme Elodie dabei drauf.
Nach ein paar Toden nimmt das erwähnte „Was wäre wenn..“-Denken überhand. Ich besuchte eine Geburtstagsfeier, wurde aber auf dem Weg dorthin von Bogenschützen angegriffen und erlag meinen Verletzungen. In meinem nächsten Versuch (ja, man kann und sollte zwischendurch speichern) streiche ich den Geschichtsunterricht von meinem Stundenplan und eigne mir stattdessen Geschicklichkeit und Kenntnisse im Bogenschießen an. Dadurch überlebe ich, allerdings entgeht mir ein spannendes Abenteuer in einer Ruine, zu dem mich eine Freundin auf der Feier überreden möchte. Ich habe zu wenig Ahnung von der Geschichte meines Landes, und kenne den Ort deswegen überhaupt nicht. Hmpf.
Long live the Queen lebt von den Auswirkungen des eigenen Handelns genau so wie beispielsweise The Walking Dead, kann es sich aber durch die reduzierte Machart (nur Text und Standbilder, wobei es trotzdem gut aussieht) leisten, die Anzahl der Varianten auf die Spitze zu treiben. Ich war ziemlich überrascht, als ich nach vielen Stunden bemerkte, dass es einen versteckten Wert für „Brutalität“ geben muss, der im Hintergrund ansteigt, wenn man beispielsweise Exekutionen befiehlt. Oder wütend auf die Jagd geht. Hat der Brutalitätswert ein gewisses Maß erreicht, stehen einem neue, extra fiese Möglichkeiten offen und man erlangt gute Laune durch das Leid anderer. Auf solche interessanten Zusammenhänge zwischen Fähigkeiten, Entscheidungen und der Gefühlslage trifft man ständig.
Es dauerte einige Zeit, bis ich den Abspann sah. Um das zu schaffen, muss man vor allem aus Fehlern lernen. Die Geschichte, die man erlebt, ist immer dieselbe, sie wird nur variiert durch die eigenen Fähigkeiten. Die möglichen Verzweigungen zu erkennen und sich zu merken, ist also wichtig, um beim nächsten Versuch für die furchtbaren Überraschungen gewappnet zu sein. Das klingt erst einmal nervig – wer mag schon reine Trial & Error Spiele? Aber Long Live the Queen hält einen dadurch bei der Stange, dass auch das Scheitern zu spannenden Situationen führt, die man nicht bereut. Durch die vielen möglichen Kombinationen der Fähigkeiten gibt es nicht den einen perfekten Weg zum Ziel. Zumindest kam es mir nie so vor. Man kann als kaltherzige, schwertschwingende Kriegsherrin genauso gewinnen oder scheitern wie als redegewandte, kunstbegeisterte Dame, die alle lieben.
Auch bei den Dialogen wurde versucht, nicht nur simple Gut-Böse-Entscheidungen einzubauen. Man wählt entweder aus dem Bauch heraus oder es passiert, dass einem Entscheidungen leichter gemacht werden, wenn man die passenden Fähigkeiten dazu erlernt hat. Ein Beispiel: Ich veranstalte einen Ball und soll jemanden zum Tanz auffordern. Normalerweise bekomme ich nur eine Liste mit groben Beschreibungen vorgesetzt: Ein jüngerer Tanzpartner… einer in meinem Alter… ein Älterer… Habe ich zuvor allerdings genug über mein Land und die Adeligen gelernt, fallen die Beschreibungen an dieser Stelle wesentlich aufschlussreicher aus, und ich bekomme zu jeder Person genau erklärt, um wen es sich handelt. So kann ich gezielter wählen.
Dass die erlernten Fähigkeiten und getroffene Entscheidungen solche direkt spürbaren Auswirkungen haben, motiviert, verschiedene Wege auszuprobieren. Obwohl die Haupthandlung immer gleich bleibt, wollte ich nach dem Abspann weiter erkunden, welche Geheimnisse ich noch aufspüren kann. Hierbei helfen die gut durchdachten Trophäen, die einem Hinweise auf versteckte Nebenhandlungen geben, ohne zu viel zu verraten. So mag ich das, wenn mich Trophäen neugierig machen. Sehr praktisch ist auch, dass man sich einblenden lassen kann, wenn man durch erfolgreichen oder gescheiterten Einsatz von Fähigkeiten die Handlung beeinflusst. Da dies normalerweise im Hintergrund geschieht und teilweise Kombinationen aus verschiedenen Fähigkeiten erforderlich sind, wäre es sehr schwer alles alleine zu erraten. Und glaubt mir: Auch mit dieser Funktion ist es noch fordernd genug, das Spiel zu überleben.
Etwas schade finde ich nur, dass die Handlung nicht ausgefallener geraten ist. Man sollte nicht mehr als eine ganz klassische Fantasy-Mittelalterwelt erwarten, mit mystischer Magie, durchtriebenen Adeligen, abenteuerlichen Ritterturnieren und prunkvollen Bällen. Nicht gerade das Nonplusultra an Einfallsreichtum, und etwas mehr schwarzer Humor abseits der Tode hättes es nach meinem Geschmack auch sein dürfen. Aber das fällt nicht ganz so sehr ins Gewicht, weil die Geschichte so schön verzweigt ist, und man die ganze Zeit damit beschäftigt ist, seine nächsten Schritte zu planen. Wahrscheinlich wäre ich kritischer gewesen, wenn es nicht mein erstes Spiel dieser Art gewesen wäre.
Meine Erfahrung mit Anime-Adelssimulationen hält sich in Grenzen, weshalb ich keinen Vergleich zu ähnlichen Titeln ziehen kann. Aber ich kann zumindest sagen, dass ich ziemlichen Spaß mit Long live the Queen hatte. Ein Tipp für alle, die hin und wieder den Rewind-Button in ihrem Leben vermissen.