Hiermit möchte ich einen Titel würdigen, der mir persönlich sehr am Herzen liegt, und der in Rückblicken auf einflussreiche Videospiele überraschend stiefmütterlich behandelt wird. Dabei hat Creatures in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre eine einzigartige Online-Community hervorgebracht, und die sollte nicht in Vergessenheit geraten.
Was ist Creatures?
Bei Creatures handelt es sich um eine Lebenssimulation, in der man niedliche Geschöpfe umsorgt: Die Norns. Anders als beim Tamagotchi wurde hierbei jedoch Wert darauf gelegt, biologische Vorgänge und natürliches Verhalten zu simulieren, und es war eines der ersten kommerziellen Projekte mit diesem Ansatz. Norns laufen eigenständig in ihrer Welt herum und befriedigen wenn möglich selber ihre Bedürnisse nach Schlaf, Nahrung oder Fortpflanzung. Der Spieler tritt nur in Form des Mauscursors auf, kann mit der Umgebung interagieren und mit den Norns per Tastatur kommunizieren. Dafür muss man ihnen aber erst beibringen, was z.B. mit “Drück Ball” überhaupt gemeint ist. Die Norns verbinden Belohnung und Bestrafung mit bestimmten Erfahrungen, wodurch man sie entweder trainieren oder gehörig traumatisieren kann. Körperliche Vorgänge wie die Verdauung, Krankheiten oder der Alterungsprozess werden ebenfalls simuliert und können über Graphen überwacht werden. In der Welt gibt es außerdem viele verschiedene Objekte und sogar andere Spezies, mit denen unsere Zöglinge interagieren können. Norns altern innerhalb einiger Stunden und können sterben, ohne dass es möglich ist, mehrere Spielstände anzulegen. Man kann einzelne Norns aber jederzeit aus dem Spiel exportieren und auf diese Weise kopieren. Es gibt ein Genetik-System, durch das bestimmte Eigenschaften über Generationen weiter vererbt werden können (hihi, wisst ihr noch, wie sich Sims 3 damit gebrüstet hat?). In Creatures 2 hatte ich einmal einen Norn mit durch eine Genmutation hervorgerufener Diabetes mit zu niedrigen Insulin- und Glykogenwerten. Durch Creatures habe ich gewisse biologische Vorgänge besser verstanden als in der Schule, auch wenn natürlich alles stark vereinfacht wurde.
Wie kam ich zu Creatures?
Im Oktober 1996 erschien ein umfangreicher Artikel über Creatures in der Spektrum der Wissenschaft. Meine beste Freundin zeigte ihn mir und wir wollten dieses “Spiel”, was ja offensichtlich mehr als nur ein Spiel war, unbedingt haben. Um die damalige Creatures Szene zu verstehen, muss man wissen, dass der erste Teil eher wie ein wissenschaftliches Experiment als ein Tamagotchi-Spielzeug vermarktet wurde, und Artikel wie dieser lockten wahrscheinlich mehr (und andere) Fans an, als die wenig herausstechende Berichterstattung in den gängigen Spielemagazinen. Findet man heute noch einen Ableger der Creatures Reihe auf dem Wühltisch, sieht das ganz anders aus, und es wirkt bloß wie ein x-beliebiges Kinderspiel. Aber zuerst sträubte ich mich sogar dagegen, Creatures überhaupt als “Spiel” zu bezeichnen. Das war ernst zu nehmende Wissenschaft!
Als ich endlich meine Eltern davon überzeugt hatte, dass ich dringend einen eigenen PC mit Windows 95 bräuchte, war Creatures meins. Und es war ein Traum! Ich züchtete stundenlang Norns, trainierte sie, legte in dicken Notizbüchern (siehe Fotos unten) Steckbriefe für jeden einzelnen von ihnen an, lernte alles über die Norn-Biologie und steigerte mich ziemlich in die Sache rein. Da ich etwa zu diesem Zeitpunkt auch anfing, regelmäßig ein Internetcafe zu besuchen, landete ich auf den unzählichen Fanseiten. Neben Giga waren sie meine erste regelmäßige Anlaufstelle im Netz und ich fand schnell Anschluss. Es gab damals einen deutschsprachigen Chat, der sich einmal pro Woche traf, sowie Foren, in denen sich die Fans über ihre Spielerfahrungen austauschten, aber auch selber programmierte Objekte zum Download anboten. Man unterschied damals zwischen verschiedenen Spielstilen, wie etwa Feral Runs und Wolfing Runs, bei denen man eine Gruppe Norns mit mehr oder weniger starken Eingrifen sich selber überließ und ihr Verhalten beobachtete. Andererseits gab es natürlich auch den Ansatz, die Lieblingsnorns so lange wie möglich gesund und am Leben zu erhalten, indem man ihnen nicht von der Seite wich und beim kleinsten Wehwechen Medikamente spritzte.
Was war das Besondere an der Creatures Szene?
Die Creatures Szene war in den 90ern im Netz wahrscheinlich die erste, die von Fans erstellte Inhalte in so großer Masse hervorbrachte. Sims kam schließlich erst Jahre später, und zu dieser Zeit dachten die meisten beim Thema Modding eher an Shooter. Neben neuen Objekten und sogar kompletten Welten wurden auch neue Norn-Arten von den Fans erschaffen, die sich in Aussehen und Genetik von den Originalen unterschieden und zu spannenden Kreuzungen führten. Aber die Königsdisziplin waren die sogenannten COBs, die Objekte, wie neue Nahrungsmittel, Spielzeuge oder komplexe Maschinen. Fans programmierten Software, die einem zum Beispiel dabei half, die Sprites zu verwalten. Weit verbreitet war der COE-Editor, mit dessen Hilfe (und der Programmiersprache CAOS) man eigene COBs erstellen konnte. Es gab unheimlich viel zu entdecken.
Ich bin rückblickend sehr glücklich darüber, dass die erste Gaming Szene in der ich mit etwa 16 Jahren landete, die von Creatures war. Vielleicht lag es an der anderen Art der Vermarktung, aber es wirkte, als hätten wir unseren ganz eigenen Platz ein wenig abseits der restlichen Videospiele. Gefühlt bestand ein Großteil der Community aus erwachsenen Frauen, was dem damals gängigen Gamer-Klischee der männlichen Teenies komplett widersprach. Heute könnte man leicht behaupten, dass das halt ein niedliches Casual-Game war, das die anspruchslose Hausfrau nebenbei ein Ründchen spielen konnte. Aber das war keineswegs so. Ein Großteil der Leute, die ich kennengelernt habe, war fasziniert von der simulierten Biologie oder dem Erstellen eigener Inhalte. Viele von ihnen betrieben eigene Fanseiten, programmierten neue Objekte oder erstellten Skins für neue Norn-Arten. Die Szene war nichht nur ungemein kreativ, sondern auch freundlich und hilfsbereit gegenüber Neulingen, und so wurde ich dazu motiviert, als Fan nicht nur passiv zu konsumieren, sondern selber aktiv zu werden. Ich brachte mir mit einem Heft vom Bahnhofskiosk HTML bei und veröffentlichte meine erste eigene Website: Janinas Norntempel. Das war der Startschuss für meine spätere berufliche Laufbahn und einiges mehr. Wer weiß, wo ich heute wäre, wenn ich damals nicht durch die Creatures Szene den Mut dazu gefasst hätte, HTML zu lernen? Immer wenn über toxische Zustände in Gaming Communities berichtet wird, oder darüber, dass Mädchen früh die Motivation genommen wird, sich mit Technik zu beschäftigen, denke ich an die Creatures Szene zurück. Ich kannte es damals nicht anders, als dass es selbstverständlich war, dass die coolen Programmier-Projekte genauso von Frauen wie von Männern ins Leben gerufen wurden. Erst außerhalb dieser Bubble bekam ich dann Kommentare zu hören wie “DU hast diese Internetseite erstellt? Du bist doch ein Mädcen?”. An so etwas erinnere ich mich bei Creatures nicht. Und ich denke das zeigt sehr schön, dass es nicht bloß mit dem Zeitgeist zusammenhängt, sondern mit den Umgangsformen und der Zusammensetzung innerhalb einer Community, wie willkommen man sich dort fühlt.
Wie ging es mit Creatures weiter?
Während der direkte Nachfolger Creatures 2 die Fans noch begeistern konnte, geriet Creatures 3 für viele von uns leider zur Enttäuschung. Dem neuen Grafikstil fehlte der Charme, man hatte weniger Möglichkeiten zur Untersuchung der Norns und alles fühlte sich viel mehr wie ein Abenteuerspiel an, als eine Lebenssimulation. Der wissenschaftliche Aspekt geriet in den Hintergrund und wurde nicht in der Art ausgebaut, wie wir es uns erhofft hatten. Ich hörte kurz nach der Veröffentlichung auf, mich mit der Reihe zu beschäftigen, besuchte den wöchentlichen Chat zwar noch eine Weile, aber spätestens mit meiner eigenen South Park Fanpage trat dann diese Community an Stelle der Creatures Community und die letzten ICQ-Kontakte schliefen ein.
In den seitdem vergangenen 20 Jahren (puh!) habe ich zwar hin und wieder davon gelesen, dass neue Creatures Spiele in Planung waren, aber ich denke nicht, dass es jemals wieder möglich sein wird, diese besondere Atmosphäre zurück zu holen, die die Community damals auszeichnete. Ein Stückchen weit gehörte dazu auch die Naivität, mehr in das Spiel hinein zu intereptieren, als vorhanden war. Natürlich war es beeindruckend für die damalige Zeit, wie die künstlichen Lebewesen simuliert wurden. Aber hatten sie wirklich jeder einen eigenen Charakter, so wie ich mir das vorstellte? Je mehr Spiele ich spielte, desto mehr wurde ich darauf trainiert zu durchschauen, was einprogrammiert ist. Das nimmt Creatures leider einen Teil der Magie. Wenn ich es heute starte, kann ich keine so starke Bindung mehr dazu aubauen, wie damals, als ich noch um jeden verstorbenen Norn trauerte. Aber die schönen Erinnerungen bleiben ja zumindest. Manche Spiele hatten einfach ihre Zeit, in der sie glänzen konnten. Ich würde mir nur wünschen, dass die kreative Fan-Szene heute noch als das gewürdigt werden würde, was sie in den 90ern war. Sie war ihrer Zeit voraus! Es wirkt auf mich so, als würden viele Videospiele-Journalisten heute darüber nur deshalb nicht schreiben, weil sie selber eher bei den klassischen Gaming-Communties aktiv waren, in denen Creatures kein großes Thema war.