26. 11. 2012

World War Zoo

Tokyo Jungle

Ursprünglich auf Polyneux gepostet.

Wenn wir nicht nur davon ausgehen, dass 2012 tatsächlich die Jahre der Menschheit gezählt sind, sondern auch davon, dass die an Reinkarnation glaubenden Religionsgemeinschaften richtig lagen, dann möchte ich in meinem nächsten Leben bitte keine Milchkuh sein. Tokyo Jungle hat mir nämlich gezeigt, dass meine Überlebenschancen in einer postapokalyptischen Metropole dann nicht sonderlich hoch wären. Der gemächlichen Kuh ziehe ich einen Geparden vor. Oder wenigstens einen Zwergspitz. Die sind nämlich eigentlich gar nicht die putzigen Schoßhündchen, als die sie uns Nintendogs verkaufen wollte!

Rein vom Spielkonzept her ist der PSN-Titel Tokyo Jungle für mich einer der interessantesten des Jahres, und dabei liegt ihm eine denkbar simple Idee zu Grunde: Sei ein Tier! Friss so viel wie möglich, markiere dein Revier und paare dich mit dem vielversprechendsten Weibchen. Was mich bei der Berichterstattung über dieses Spiel gewundert hat ist, dass es als so unheimlich verrückt bezeichnet wird. Dabei bietet es trotz merkwürdiger Hintergrundgeschichte doch eine überraschend realitätsnahe Aufgabenstellung, die mir in dieser Form bisher noch nicht untergekommen ist.

Tokyo JungleSchlüpft man in Videospielen in die Rolle von Tieren, werden diese normalerweise vermenschlicht und verniedlicht, was die guten alten Disney-Stereotypen hergeben. Wann hat man zuletzt einen blauen Igel Ringe sammelnd durch den Wald rennen sehen oder mit Pümpeln bewaffnete, hysterisch lachende Kaninchen in Kostümen? Selbst Spiele wie Animal Crossing, die uns das soziale Gefüge einer Tiergemeinschaft näher bringen wollen, geben sich wenig Mühe dabei, dies auf realistische Weise zu tun. Ihr geht also angeln, shoppen und ins Museum? Und dieses Museum wird natürlich von einer Eule geleitet, weil die für die intellektuelle Elite steht? Es sind traurige, weltfremde Klischees, die sich hier offenbaren! Nicht auszudenken, welche Auswirkungen sie auf leicht beeinflussbare Kinderseelen haben können. Dass Stadtkinder glauben, Kühe seien lila, ist nur die Spitze des Eisberges, denkt an meine Worte. Würden Tiere verstehen, wie sie in Videospielen dargestellt werden, würde uns eine noch viel hitzigere Debatte erwarten, als über das dort vorherrschende Frauenbild. Und ob ich die mit einem Alligator führen möchte… nein, lieber nicht.

Es gibt zwar Spiele, die Tiere einfach Tiere sein lassen, allerdings werden sie dann in die eindimensionale Rolle des Bösewichts gedrängt. Führt euch nur vor Augen, wie viele Ratten, Wölfe und Bären wir kaltherzig in RPGs niedergestreckt haben, die uns nur dazu dienten, XP zu sammeln. Dass sie ihr Rudel ernähren mussten oder den Nachwuchs zu schützen versuchten, war uns gleichgültig. Dabei stehen sie normalerweise ganz unten auf der Karriereleiter der Videospielgegner.

Nun kommt also Toyko Jungle und zeigt uns endlich, was es wirklich bedeutet, ein Tier zu sein. Ist man ein schwacher Pflanzenfresser, schleicht man vorsichtig von Gebüsch zu Gebüsch. Als Fleischfresser folgt man den Pflanzenfressern durch die selben Gebüsche und hofft auf den idealen Moment zum Angriff. Beschönigt wird hierbei nichts, das Spiel kann einem durchaus brutal vorkommen. Aber so ist das halt… es ist ein „Survival Game“ im wahrsten Sinne des Wortes, bei dem hinter jeder Ecke der Tod lauert. Übrigens oft in Form eines Alligators. Diese hinterhältigen Drecksviecher.

Erst wenn man die Storymissionen spielt, offenbart sich einem die seltsame Hintergrundgeschichte, die erklärt, weshalb die Tiere im menschenleeren Tokio auf sich allein gestellt sind. Die Story ist allerdings eher ein netter Bonus, Herzstück des Spiels ist der Überlebensmodus, in dem es darum geht, alleine oder zu zweit möglichst viele Generationen durchzuhalten und dabei Punkte zu sammeln. Man frisst, verbessert seinen Rang, erobert Reviere und paart sich daraufhin mit den sich mehr oder weniger willig zeigenden Weibchen. Die Generationswechsel versorgen einen sozusagen mit Extraleben, denn je nach Qualität des Weibchens (tja, so ist das halt… lass dich nicht auf die „verzweifelten“ Frauen ein) produziert man unterschiedlich viel Nachwuchs, dessen Rolle man dann übernimmt. Stirbt man als Teil dieses Rudels, ist das Spiel nicht sofort vorbei, sondern man kann so lange weiter machen, wie noch Geschwister übrig sind. Abgesehen von diesem Vorteil ist die Paarung aber auch deshalb ein Muss, weil jedes Tier nur eine Lebenserwartung von 15 Jahren hat.

Als wäre das nicht schon stressig genug, gibt es im Überlebensmodus optionale Aufgaben, für die man unter Zeitdruck beispielsweise bestimmte Gebiete erreichen, geschickt jagen oder eine Mindestmenge an Nahrung aufnehmen muss. Als Belohnung erhält man nicht nur Punkte, sondern verbessert auch seine Fähigkeiten, die an die späteren Generationen weitergegeben werden. Für kurze Zeit kann man sich übrigens auch durch das Anlegen von gefundenen Kleidungsstücken einen kleinen Boost verpassen, und auch Medikamente und Tierfutter im Inventar können hilfreich sein. Hier endet dann auch der Realismus, wenn man seinen Löwen mit Plüschpantoffeln und Strohhut ausstattet, um seinen Angriffswert zu erhöhen. Aber zumindest das Inventar sollte nicht ignoriert werden, denn man gerät immer wieder in Gegenden, in denen Nahrungsmangel herrscht oder die giftigen Hinterlassenschaften der ehemaligen Bewohner die Luft verpesten. Ein Paradies ist dieser Dschungel nicht gerade.

Nach und nach kann man weitere Tierarten freischalten, von denen es eine beeindruckende Menge gibt. Nicht nur Fleisch- und Pflanzenfresser spielen sich verschieden, sondern es wurde versucht, typische Eigenarten der einzelnen Arten einzubauen. Das Schwein bekommt aufgrund seiner Fettreserven nicht so schnell Hunger, das kleine Küken kann sich unter Autos verstecken und die Gazelle glänzt durch ihre Fähigkeit zum Doppelsprung.

Zu viel Umfang und Abwechslungsreichtum sollte man allerdings nicht erwarten, man startet immer im selben Gebiet und versucht auf ähnliche Art zu überleben. Wer keinen Spaß daran hat, auf Ranglistenpunkte zu spielen oder die anderen Tierarten freizuschalten, könnte schnell die Lust verlieren. Aber alleine schon wegen seines unverbrauchten Themas hat mir Tokyo Jungle sehr gut gefallen und mich viele Stunden bei Laune gehalten. Das sollte man unterstützen. Wer weiß, vielleicht wird es dann endlich Spiele geben, in denen ich den Alltag einer Kleidermotte im überfüllten Schrank meiner Schwester oder einer im Frankfurter Hauptbahnhof unter den Snackautomaten heimischen Maus miterleben darf?

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